Thüringisch

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Das Thüringische gehört zum ostmitteldeutschen Sprachraum und ist verbreitet im Gebiet nördlich des Thüringer Waldes bis zum Harz, zwischen der Werra im Westen und dem Altenburger Land im Osten.

Übersicht über die ostmitteldeutschen Dialekte

Der ostmitteldeutsche Dialektraum untergliedert sich in sieben Dialektverbände. Die kurze Übersicht folgt der Untergliederung Putschkes, ebenso die Verwendung der Begriffe Dialektverbände [= Menge der Dialektgruppen mit mindestens einem gemeinsamen Definitionsmerkmal; großräumige Untergruppe eines Dialektraumes] vs. Dialektgruppe [= kleinräumige Untergruppe eines Dialektverbandes].

Dialektverbände und ihre Merkmale [-x Realisation des en-Auslautes; x- Realisation des er-Präfixes; x Realisation des Artikels im Dativ Plural]

  • Thüringisch: -e, Ø; er-
  • Obersächsisch: -en; der-
  • Lausitzisch-Neumärkisch: -en; er-
  • Schlesisch: da; der-
  • Böhmisch: dan, dean; da-
  • Nordmährisch: dan; de-
  • Hochpreußisch: -e; de

Thüringische Dialekträume

Aufgrund der Arbeit am Thüringischen Wörterbuch hat sich die Untergliederung des thüringischen Dialektverbandes, von Rosenkranz [und seiner Darstellung folgend auch Putschke] auf sechs Dialektgruppen angesetzt, inzwischen auf neun Gruppen erweitert:

  • Das Zentralthüringische , welches sich nach Rosenkranz/Putschke in (1)West- [mit Erhaltung der Monophthonge] und (2)Ostthüringisch [Durchführung der Diphthonge] unterteilt. Die Bestimmungsmerkmale sind durch die mitteldeutsche Senkung gegeben. Das Thüringische Wörterbuch [Thür. Wb.] differenziert außerdem noch in (3)Zentralthüringisch und (4)Ilmthüringisch.
  • Das Nordthüringische mit den Dialekträumen Honsteinisch, Sondershäusisch, Eichsfeldisch und Südmansfeldisch. Dieses Gebiet führt die mitteldeutsche Senkung nicht durch. Das Thür. Wb. setzt Eichsfeldisch als Teilraum von (5)Nordthüringisch, Mansfeldisch als Teilraum von (6)Nordostthüringisch an.
  • Die letzte Untergliederung nimmt nur noch das Thür. Wb. vor. Es unterteilt die südliche Sprachlandschaft Thüringens in das (7)Hennebergische, (8)Itzgründische und (9)Südostthüringische.

Thüringisches Wörterbuch

Das Thüringische Wörterbuch [ThürWb] dient vielen populärwissenschaftlichen Wörterbüchern als Materialgrundlage. Die Grundlage des ThürWb bilden reichlich 5 Millionen Wortbelege aus 3100 Gemeinden und Ortsteilen, welche u.a. durch Aufrufe an die interessierte Bevölkerung zur Mitarbeit [Beantwortung von Fragebögen; Einsenden von frei gesammeltem Material] und jeglichen erreichbaren Abhandlungen über die thüringische Mundart in einem Zeitraum von 80 bis 90 Jahren zusammengetragen wurden. [Ebenfalls Berücksichtigung fanden Mundartliteratur, Heimatschrifttum und historisches Schrifftum in Auswahl.]

Eine lexikologische Neuerung findet sich bei der Artikelgestaltung: Obwohl die Artikel zunächst semasiologisch, d.h. den Bedeutungsinhalt des sprachlichen Zeichens beschreibend, aufgebaut sind, gibt es zusätzlich ein auf vorkommende Heteronyme hinweisendes System. Somit stellt das ThürWb auch eine Vernetzung der Artikel auf der onomasiologischen Ebene her.

Die Lemmata des ThürWb sind alphabetisch geordnet und meistens in hochsprachlicher Form angesetzt, wenn eine direkte schriftsprachliche Entsprechung zugrunde liegt. Nach dem Lemma folgt im jeweiligen Artikel die grammatische Kategorisierung des Lexems, anschließend Angaben zu Semantik, Verbreitung [bei Verbreitung im gesamten Sprachraum mit allg. gekennzeichnet; den entsprechenden Sprachraum mit seiner Abkürzung bezeichnend oder durch die jeweilige Kreisbezeichnung] und teilweise Belegdichte, Mundartbeispiel, Varianten. Nicht-obligatorische Artikelangaben wie z.B. Hinweise zu Etymologie, Volkskunde und Lautformen in Teuthonista-Lautschrift stehen im ThürWb am Ende eines Artikels kleingedruckt, dort sind ebenfalls Verweise auf den Beiband zu finden.

Syntaktische Besonderheiten des Thüringischen

Nomina und Artikel

Die Genera des Substantivs stimmen im Wesentlichen mit der Standardsprache überein; eine prägnante Ausnahme bildet lediglich das nördliche Eichsfeldische, welches jedem weiblichen Wesen das neutrale Geschlecht zuweist.

  • mir ist das egal, ob er kommt oder es; und Inge, das aß keinen Käse

Gleiches gilt für den Numerus, jedoch kann an Wörter mit Nullplural im nördlichen Nord-, und Nordostthüringischen auch ein s-Morphem antreten und somit die Pluralmarkierung ersetzen.

  • Hammels; Haufens; Enkels; Messersch

Dieses Morphem ersetzt teilweise auch die Pluralumlautung [Nagels; Wagens]. In der thüringischen Mundart werden die Kasus sehr stark reduziert durch den Zusammenfall von Dativ und Akkusativ, so dass eine Kasusunterscheidung im Singular oder Plural nur durch das Hinzutreten von Artikeln, Pronomina, etc. möglich ist. Außerdem fällt der Genitiv in der mundartlichen Rede weg und wird stattdessen durch Umschreibungen mit Possessivpronomina oder Präpositionen ersetzt.

  • meiner Mutter ihr Haus; das Ende von der Leiter; das Rücklicht vom Fahrrad

Der Genitiv ist lediglich in Zusammensetzungen [Nachbarskinder; Hundshütte] und zur Bezeichnung familiärer Zusammengehörigkeit [Schröders Max; die Töpfers Frieda] belegt.

Die Stellung im Nebenton von Artikeln und Pronomen kann zu einer starken Reduktion führen. Die weite Verbreitung des n-Abfalls beim unbestimmten Artikel wiederholt sich ebenfalls bei den Pronomina 'mein', 'dein' und 'sein'. Der bestimmte Artikel kann in der Enklise auch den Anlautkonsonanten verlieren [er hat'n Arm gebrochen; er will'n Ball haben], für 'das' ist der Konsonantenverlust auch in nichtenklitischer Stellung üblich ['s Geld stimmt].

Die Wortstellung wirkt sich ebenfalls auf die Personalpronomen aus, so wird z.B. 'wir' bis auf den Osten und Süden des thüringischen Dialektraumes r-los realisiert, in betonter Stellung mit Längung des Auslautvokales, in unbetonter Stellung mit kurzen Vokal. Eine weitere Besonderheit ist der m-Anlaut des Wortes im gesamten thüringischen Dialektgebiet, entstanden aus der Enklise nach der Verb-Endung -en der 1. Pers. Pl. oder nach anderen Wörtern mit n-Auslaut. Die Assimilation von m wurde schließlich für den Anlaut verallgemeinert.

Die im Thüringischen ungebräuchlichen Indefinitpronomen 'jemand' und 'niemand' werden ersetzt durch die Formen von einer, eine, eins, im Hennebergischen auch wer [es kommt eins; Ist denn wer draußen?] und keins bzw. verstärkend kein einziger.

  • es war kein einziger da; Hat denn keins meine Brille gesehen?

Verbalflexion

Typisch für die Verbflexion ist die Apokope des Endungs-e in den Formen der 1.Sg. Ind. Präs., der 2.Sg. Imp. und 1./3.Sg. Ind./Konj. Prät., welche im südwestlichen Teil des Dialektgebietes [West-, Zentral-, Südostthüringisch, Hennebergisch, Itzgründisch] ständig anzutreffen ist, jedoch nach Tonbandaufnahmen auch in den anderen Sprachräumen, insbesondere nach dem Imperativ oder einem dem Verb folgenden Personalpronomen bzw. bei vokalisch auslautendem Verbstamm, vorkommt. In den nördlichen Sprachräumen ist es hingegen üblich, in der 1./3. Pers. Sg. Prät. vieler Verben ein e anzufügen, was als Angleichung an die schwache Verbalflexion aufgefasst wird. Der n-Abfall im Infinitiv ist nahezu im gesamten Dialektgebiet zu finden, andere Konjugationsformen sind nur im Hennebergischen betroffen, wo lediglich vokalisch auslautende Verbstämme und mit vorhergehendem r oder l gebietsweise nicht davon involviert sind. Das Itzgründische vokalisiert die Endung -en nach Nasalen zu -a, das Südostthüringische zu -e. Zu völliger Endungslosigkeit des Infinitivs führte die Apokope im West-, westlichen Zentralthüringischen, Hennebergischen, Itzgründischen und im Südzipfel des Südostthüringischen. Vom n-Abfall verschont bleibt hingegen der aus dem Gerundium entstandene Infinitiv nach 'zu'.

Syntax

Eine Besonderheit in der thüringischen Satzgestaltung sind Inversionen, welche auftreten, wenn der Infinitiv mit Modalverben der sinnlichen Wahrnehmung [z.B. hören, sehen, etc.] oder mit heißen, helfen und lassen verbunden ist. Liegt eine trennbare verbale Zusammensetzung vor, tritt das Hilfsverb zwischen die Glieder der Zusammensetzung [er hat es nicht hineintun dürfen]. Im Thüringischen werden häufig Hauptsätze verwendet anstatt einer differenzierenden Unterordnung durch Nebensätze [er kann nicht kommen, er ist krank], Satzverknüpfungen mit den Konstruktionen 'um zu' oder 'ohne zu' sowie Partizipialsätze fehlen gänzlich.

Außerdem ist es nicht ungewöhnlich, dass Satzglieder - teils zur Hervorhebung - zu Nebensätzen umgeformt werden [und wie das Gewitter vorbei war, da schien die Sonne wieder]. Als weiteres Mittel der Hervorhebung kann die Voranstellung eines Satzgliedes [Topikalisierung] dienen, welches durch ein Pronomen oder Adverb wieder aufgenommen wird [mein Mann, der ist die ganze Woche nicht zu Hause]. Diese Voranstellung wird häufig zu einem vollständigen, mit 'was' eingeleiteten Nebensatz erweitert.

  • was die älteste Tochter ist, die hat den Dialekt noch so ein bisschen

Thüringische Dialektliteratur

Es gibt zwei ästhetische Verfahren des Einsatzes von Dialekt:

  • Zum einen den Parallelismus, bei dem 'Textbedeutung' und 'Mundartbedeutung' übereinstimmen. Ein geläufiges Beispiel dafür wäre die Verwendung von Dialekt als 'Bauernsprache' in einem Stück über das bäuerliche Leben.
  • Das andere Verfahren bezeichnet man als Abweichung, bezogen auf die Diskrepanz zwischen 'Textbedeutung' und 'Mundartbedeutung', die beispielsweise entstehen kann, wenn ein philosophisches Gedicht in Mundart geschrieben wird. Eine weitere Abweichung ist in dem Fall durch die Themenwahl gegeben, weil sie gegen die [teilweise geforderten] Mundartstereotypen verstößt und neue Bedeutung aufbauen kann.

Epik und Lyrik

Den Großteil thüringischer Dialektliteratur stellt die Epik dar , wobei Kurzformen [humoristische Geschichten, Anekdoten] vorherrschend sind. Thematisch wird ein breites Spektrum behandelt, welches nicht nur Schilderungen des ländlichen Lebens, der damaligen Zustände und Feste einschließt, sondern auch Darstellungen des Schulalltags, historisch-politische Ereignisse, Sagen und "Sprachwissenschaftliches" zur thüringischen Mundart [u.a. Aussprachehinweise, Ortsnamen].

Am zweithäufigsten findet sich in der thüringischen Dialektliteratur Lyrik, welche charakterisiert wird durch Form und Inhalt der alten Mundartliteratur. Fast ausnahmslos schildern die Gedichte [und häufig auch Kinderlieder] Szenen aus dem harmonisch-idyllischen Land- und Alltagsleben von Bewohnern der ländlichen Gegend. Ebenfalls sehr häufig sind humoristische Gedichte, die Bezug nehmen auf Besonderheiten der thüringischen Mundart, zumeist verfasst von Autoren mit sprachwissenschaftlichem Hintergrund [am produktivsten in dieser Kategorie waren Walther Tröge und August Ludwig].

Beispiele dialektaler Dichtung

"Erlkönig"

's is emal e Vater mit sein Jong iber Land geritten un erscht in d'r Nacht bei e Mordsturm widder 
heem gekomm. M'r muß sich nur verwunnere, wie e Vater kann so unverstännig sei un mit e Kinne in 
so eener Dunkelheet un bei so e Heidenwetter eene Reese ongernehme. Der is je Prigeln wert! Un 
noch drzu off d'n Pfere! Wie leichte kann da nich e Unglück passiere! er konnte je sein Jong 
drheeme lasse.
Wie se so off d'n Wege warn, da wurde der Jonge off eemal unleid'g, weil 'r sich vor'n Erlkönig 
färchte. Wer nur den Kinne solch verflickschtes, dommes Zeig muß in Kopp gesetzt ha! Das kömmt 
drvon, wenn de Kinnermädchen so leichtsinnig sin un de kleen Kinner mit e Popanz ferchtnig 
machen! Uns is so gegang mit d'n Schlotfeger: vor den sin m'r ausgerissen wie Schafleder - aber 
von e Erlkönig wußt m'r nischt. Das muß erscht eene neie Mode sei!
Dr Vater hatte seine Not mit d'n Jong un wollt 'n begitge un sa'te for'n: 's wär je nischt, 's 
wär nur Nebel! - Uber sei Reden half 'n nischt: d'r Jonge wollte och etze d'n Erlkönig hire 
pappere! Er muß getreemt ha - annersch kann ich m'rsch nich denke.
Sei Vater sa'te:d'r Wind wärsch - aber e blieb dabei un wollte och Erlkönigen seine Mächen gesihn 
ha. Er hatte de Beeme an d'r Schoffee drvor angesihn, dr Vater merkte 's wohl.
Wie 'r aber immer un ängstlicher wurde un endlich schrie: erlkönig hätten angepackt un hätte 'n 
etze eene droff gegeb'n - da wurd's sein Vater eklig ze Mute: er ritt zu, was Pferd nur loofe 
wollte, un wie 'r heemkam, war d'r Jonge tot.
Siehste, das hat 'r von den dämlichen Fercht'gmachen gehatt!

"Änne Värschröft"

[...]
unser Volk kann Spaß verstieh,
kann ooch schüne sönge,
aber eens, das wärscht de nie
nech in Thüring' fönge:
hartes "p" un hartes "t"
kannst de nech begrüße,
weech ös alles eenerlee,
ooch de ruhen Klüße;
"Leute" sötzen söcherlich
nech dahier off "Stühlen",
weil se nur off "Schdielen" sich
racht "gemiedlich fiehlen";
[...]

Literatur

  • Bach, A.: Deutsche Mundartforschung. Ihre Wege, Ergebnisse und Aufgaben. Heidelberg 19502.
  • Goossens, J.: Deutsche Dialektologie. Berlin/New York 1977.
  • Ludwig, August: Quatschgenkuchen und Muskräppelchen. Heitere Geschichten in Thüringer Mundart. Leipzig 1956.
  • Markey, T. L.: Prinzipien der Dialektologie. Einführung in die deutsche Dialektforschung. Mit einer ausführlichen Bibliographie. Großen-Linden 1977. [= Gießener Beiträge zur Sprachwissenschaft 8]
  • Niebaum, H. + Macha, J.: Einführung in die Dialektologie des Deutschen.Tübingen 1999. [= Germanistische Arbeithefte 37]
  • Putschke, W.: Ostmitteldeutsche Dialektologie. In: L. E. Schmitt: Germanische Dialektologie. Festschrift für W. Mitzka zum 80.Geburtstag. Bd.1. Wiesbaden 1968. S. 105-154.
  • Rosenkranz, H.: Der thüringische Sprachraum. Untersuchungen zur dialektgeographischen Struktur und zur Sprachgeschichte Thüringens. Halle 1964. [=Mitteldeutsche Studien 26]
  • Spangenberg, K.: Laut- und Formeninventar thüringischer Dialekte. Beiband zum Thüringischen Wörterbuch. Berlin 1993.
  • Sommer, Anton. Thüringer Klänge. Gedichte und Erzählungen in echt Thüringer Mundart. Ausgewählt und neu herausgegeben von Waldemar Döpel. Jena 1938.
  • Weisgerber, B.: Mundart, Umgangssprache, Standard. In: H. Goebl + P. H. Nelde et al.: Kontaktlinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 1. Berlin/New York 1996. S. 258-271.
  • Etzold, Regina + Löber, Karin: Thüringisch, Thüringer, Thüringen: ein Lesebuch. Erfurt 1991.
  • Keil, Heinz: Der Thüringer. Bd. 1: Mein Studium der Mundart. Bd. 2: Geschichte und Mundart. Bad Langensalza 1994.
  • Knoop, Ulrich: Wörterbuch deutscher Dialekte. Eine Sammlung aus zehn Dialektgebieten im Einzelvergleich, in Sprichwörtern und Redewendungen. Unter Mitarbeit von Michael Mühlenhorst. München 2001.
  • Kürsten, Otto + Kramer, Walther: Von der Mundart zur Hochsprache. Sprachkunde und Sprachlehre für Thüringer und Sachsen. Erfurt 1935.
  • Lösch, Wolfgang + Petzold, Rainer et al.: Kleines Thüringer Wörterbuch. Leipzig 1995. [=Reclam-Bibliothek Bd. 1521]
  • Spangenberg, Karl: Kleines Thüringisches Wörterbuch. Rudolstadt/Jena 1994.